Gedanken zur einrichtungsbezogenen Impfpflicht ab 16. März

Seebach-Bewohnerin Elfriede Rittweger und Farhiya Hilowle Ahmed in der Wohnküche

Schon bei voller Besetzung nur 100 Minuten Pflege und Betreuung täglich je Heimbewohner

Ab 16. März 2022 dürfen in Pflegeheimen, Krankenhäusern und vergleichbaren Bereichen nur noch Personen arbeiten, die vollständig gegen Covid-19 geimpft bzw. gültig davon genesen sind, oder die aus medizinischen Gründen nicht geimpft werden dürfen.  An diesem Tag müssen die Einrichtungen alle bereits Beschäftigten, die bis zum Vortag keinen gültigen Nachweis hierzu vorgelegt haben, an das Gesundheitsamt melden. Dieses entscheidet dann im Einzelfall, ob und wann es ein personengebundenes Betretungsverbot in der Einrichtung ausspricht. Was das am Ende für das einzelne Arbeitsverhältnis bedeutet, ist ungewiss.

Die Beschäftigten in den betroffenen Berufen stehen seit beinahe zwei Jahren Tag für Tag unter schwierigsten Bedingungen an vorderster Stelle die Pandemie durch – für uns alle. Trotz großer Ungewissheit, eigener Ängste und maximal erhöhten Aufwandes sorgen sie nach Kräften für ein würdiges und sinnerfülltes Leben der Pflegebedürftigen. Über viele Monate hatten sie kaum Möglichkeiten, sich selbst wirksam zu schützen, blieben aber am Platze, aus Sorge um „Ihre“ hilfebedürftigen Bewohnerinnen und Bewohner. Wen wundert es, dass sich diese Menschen angesichts der isolierten Impfpflicht nun als Sündenbock, Stellvertreter oder zu Unrecht Bestrafte fühlen? Warum gibt es keine Impfpflicht für die zu schützenden Heimbewohner selbst oder für deren Besucher? Warum nicht für alle, die ins Haus kommen? Das Gesetz lässt einige Fragen offen.

Aus Sicht vieler Mitarbeitender und Betreiber von Pflegeeinrichtung bahnt sich jenseits dieser Überlegungen eine Versorgungskrise ungekannten Ausmaßes an. Ursache ist die bereits im Normalfall maximal gespannte Personalsituation in den Einrichtungen. Selbst wenn alle Stellen besetzt wären, ist das System „auf Kante gestrickt“ und wird damit äußerst empfindlich auf den Verlust jedes weiteren Mitarbeiters, jeder weiteren Mitarbeiterin, reagieren.

In Thüringen teilen sich rund 2,6 Bewohner eine Personalstelle für Pflege und Betreuung. (Übrigens hat diese Zahl keinerlei wissenschaftliche Grundlage, sondern ist historisch aus dem jeweils Vorherigen und dem „anscheinend Möglichen“ entstanden.) Dieser Personalschlüssel scheint auf den ersten Blick geradezu paradiesisch: Sich um zwei bis drei Senioren zu kümmern, sollte für einen Profi doch gut möglich sein. Das ist ein häufiger Trugschluss, denn das Jahr hat 365 Tage á 24 Stunden, an denen die Versorgung lückenlos stattfindet. Die Inhaberin der rechnerischen Vollzeitstelle arbeitet bei der üblichen Fünftagewoche nur an rund 250 Tagen im Jahr und täglich nur 8 Stunden. Von den 2000 Jahresstunden der Stelle gehen Abwesenheitszeiten wie Urlaub und Krankheit ab, was die tatsächlich verfügbare Arbeitszeit auf rund 1550 Stunden pro Jahr reduziert. Verteilt man diese Stunden auf 2,6 Bewohner und 365 Tage, verbleiben für jeden Bewohner ganze 98 Minuten in 24 Stunden. In dieser Zeit muss alles erledigt werden, was direkt und indirekt mit dem Bewohner geschieht: Waschen, Kleiden, Mobilisation, Hilfe beim Essen und Trinken, Toilettengänge, Prophylaxen und Therapien aller Art, jede Begleitung im Alltag, aber auch Dienstübergaben, Bestellungen, Fallbesprechungen, Kommunikation mit Ärzten/Apotheken, andere organisatorische Aufgaben und die gesamte Dokumentation – um nur Ausschnitte zu nennen.

Seit der Pflegereform 2017 gibt es je 20 Bewohner eine weitere Vollzeitstelle für zusätzliche Betreuungsangebote, knapp 13 Minuten pro Person. Weitere Gesetze sollten entlasten: Zusätzliche 13.000 Stellen Fachpersonal (2019) brachten in einem Heim mit 80 Plätzen 3,2 Minuten je Bewohner am Tag, Bedingung ist allerdings die Vollbesetzung der regulären Stellen. Bundesweit 20.000 Stellen Pflegeassistenz (2021) werden in Abhängigkeit von den Pflegegraden der Bewohner bewilligt, hier sind 6 weitere Minuten drin. Höhere Personalquoten scheitern schon daran, dass die Kosten dafür in ganz Deutschland noch immer direkt den Eigenanteil der Bewohner erhöhen würden. Das möchten den Pflegebedürftigen weder die Betreiber der Einrichtungen, noch die Verhandlungspartner bei den Pflegekassen und Kommunen, zumuten.

Nicht zuletzt beruht die gesamte Berechnung der Kosten und Pflegesätze eines Pflegeheimes in Thüringen auf einer ganzjährigen Auslastung von stolzen 98 %. Jedes Zimmer muss also fast an jedem Tag des Jahres belegt sein, damit das Haus wirtschaftlich ausgeglichen arbeitet.

Der resultierende Druck erreicht direkt das Personal in Form höchster physischer und psychischer Belastung, unter anderem durch regelmäßiges Einspringen an freien Tagen, vor allem aber in dem Empfinden, den eigenen beruflichen Ansprüchen in der täglichen Atemlosigkeit nicht gerecht werden zu können. Resultate sind Überlastung, Krankheit und eine überdurchschnittlich hohe Berufsflucht, was in einem Teufelskreis wiederum die Personalsituation verschärft.

Buchstäblich jeder einzelne zusätzliche, auch vorübergehende, Verlust von Mitarbeitenden kann in diesem fragilen System einen Kollaps verursachen. Aktuell sollte die einrichtungsbezogene Impfpflicht dringend entschärft oder ausgesetzt werden. Langfristig jedoch ist der Stellenwert der ältesten Generation in unserer gesellschaftlichen Ethik grundsätzlich zu justieren.

Bernd Lindig
Wissenschaftlicher Leiter
Forum Seebach / Soziokulturelles Forum

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